Andrea Polaschegg

Universitätsprofessorin für neuere deutschsprachige Literatur

„Konkurrenz der Altertümer. Deutschlands Antikentektonik zwischen Historismus und Moderne“ (Laufzeit: 2013 – 2016)

SFB 644 Transformationen der Antike (Humboldt-Universität zu Berlin)  Teilprojekt B11 | 2013 – 2016

Teilprojektleiterin:

Prof. Dr. Andrea Polaschegg

Wissenschaftliche Mitarbeiter/innen:

Dr. Michael Weichenhan, Dr. des. Friederike Krippner
Unterprojekt 1: Differenzen und Konvergenzen der Altertümer in den modernen Altertumswissenschaften: Babylonier – Hebräer – Hellenen (Dr. Michael Weichenhan)

Unterprojekt 2: (Gegen-)Antiken der Moderne: Babylon – Griechenland – Jerusalem (Dr. des. Friederike Krippner)

Das Projekt geht von der Beobachtung aus, dass die für Kunst, Kultur und Wissenschaft in Deutschland gleichermaßen zentrale Bezugsgröße ‚Antike‘ im Laufe des 19. Jahrhunderts nicht allein einem tiefgreifenden Prozess der Historisierung unterworfen wurde, sondern sich im Zuge dessen auch zu einer Vielzahl von – griechischen, römischen, ägyptischen, hebräischen, indischen, persischen, babylonischen und nordischen – Altertümern pluralisiert hat. Für die deutsche Kulturgeschichte zwischen Historismus und Moderne ist dieser Ausdifferenzierungsprozess insofern entscheidend, als diese verschiedenen Altertümer vor allem aufgrund ihrer jeweiligen Sprache eine so ausgeprägte Individualität gewannen, dass sie sich gegen ihre Synthetisierung zu einer paradigmatischen ‚Antike‘ sperrten und sich gegenseitig den exklusiven Anspruch auf ästhetische und kulturelle Geltung streitig machten.

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Abb. 1: Ferdinand Rahlwes/ Ephraim Moses Lilien: Die Bücher der Bibel (1912)

Entsprechend liegt der systematische Fokus der Projektarbeit auf den Konkurrenz- und Konvergenzverhältnissen dieser verschiedenen Altertümer zu ihren jeweiligen Gegen- und Nachbarantiken, wie sie im altertumswissenschaftlichen und literarischen Diskurs der Zeit ventiliert wurden. Gefragt wird nach den Formationsprinzipien und transformatorischen Effekten der jeweiligen Altertumskonstellationen und nach ihrer spezifischen Leistung für Prozesse ästhetischer, wissenschaftlicher sowie nationaler Selbstbehauptung und -reflexion in Deutschland.

Historisch konzentriert sich das Projekt einerseits auf den ab 1850 rasant steigenden Einfluss der Archäologie innerhalb der bis dahin philologisch dominierten Altertumswissenschaften. Denn mit diesem archäologischen turn geht sowohl ein Wechsel der wissenschaftlichen Leitmedien von Sprache und Text hin zu Bild und Objekt einher, als auch eine zunehmende Bedeutung geopolitischer Kalküle im Kontext von Ausgrabung und Ausstellung der Funde. Daher gilt den epistemologischen, medialen und politischen Auswirkungen dieser wissenschaftlichen Akzentverschiebung auf die Ordnung der pluralisierten Antiken die besondere Aufmerksamkeit der Untersuchungen.

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Abb. 2: Lithografierte Ansichtskarte zur Berliner Gewerbe-Ausstellung (1896)

Zum anderen steht mit der archäologischen und philologischen Wiederentdeckung Babylons im ausgehenden 19. Jahrhundert das Auftreten einer ‚neuen‘ Antike im Zentrum der Projektforschung. Denn ihre beispiellose Affirmation durch Reichspolitik, Großstadtkultur, Ästhetik und Wissenschaft um 1900 hat zu signifikanten Verschiebungen innerhalb der deutschen Antikentektonik geführt und macht letztere zugleich seismographisch erfassbar.

Ein Untersuchungsschwerpunkt liegt auf der Konjunktur astrologischer Modelle als neuer Interpretationsmatrix der Kulturgeschichte, die den wissenschaftsgeschichtlichen Aufstieg Babylons begleiteten. Auf dem Feld der pluralisierten Antike(n) zeitigten diese Modelle nämlich nicht allein weitreichende Konvergenz- und Konkurrenzeffekte, wie etwa eine kulturpolitisch aufgeladene Opposition von Babyloniern und Hebräern oder eine kulturmorphologische Synthese von babylonischer, griechischer und germanischer Epik. Überdies erlaubte es die neue astrologische Matrix erstmals auch, die sprach- und kulturgeschichtliche Differenz zwischen den verschiedenen Altertümern in einer naturgeschichtlichen Synthese aufzuheben und damit letztlich den Historismus hin zu einer universalisierten Moderne zu überschreiten.

Einen zweiten Schwerpunkt bilden die spezifisch ästhetischen Valenzen und Eigendynamiken der Altertumskonstellationen. Babylon wurde einerseits als metropolitane und somit dezidiert ‚moderne‘ Antike figuriert und firmierte andererseits als Ort des Urmythos und der Hermetik. Dadurch eröffneten sich Anschlussmöglichkeiten für literarische Science-Fiction und architektonische Großstadtentwürfe ebenso wie für esoterische Kosmologien und kunsthistorische Universalkonzepte.
Das Projekt organisiert sich in einem wissenschaftsgeschichtlichen und einem literaturwissenschaftlichen Unterprojekt, die ihren Fokus jeweils auf eine historisch dominante Dreierkonstellation von Altertümern mit Babylon im Zentrum legen. Gemeinsames Ziel ist die historische und systematische Analyse wechselseitiger Transformationsprozesse der vervielfältigten Altertumskulturen im Übergang vom Historismus zur Moderne.